Auf ein Wort

Liebe Schwestern und Brüder,

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Datum:
Di. 30. Apr. 2024
Von:
Pfr. Dr. R. Scheulen / rm

unter den zahlreichen Jubiläen dieses Jahres sticht eines in besonderer Weise hervor, das uns alle angeht: unser Staat wird 75 Jahre alt. Am 23. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat unter den damals gegebenen historischen Voraussetzungen das „Bonner Grundgesetz“. Nach der Wiedervereinigung wurde es die verbindliche Verfassung für das vereinigte neue Staatsgebilde.

Dieses Grundgesetz enthält in seiner Präambel eine Bezugnahme auf Gott: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,…, hat das Deutsche Volk,…dieses Grundgesetz beschlossen.“

Der Gottesbezug in der Präambel ist von Anfang an Gegenstand auch kontroverser Kritik gewesen. Klargestellt ist dabei, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes durchaus den biblischen Gott vor Augen hatten, damit aber nicht die weltanschauliche Neutralität des neuen Staates in Frage stellen wollten. Die Rechtsauslegung deutet den Gottesbezug vielmehr als Ausdruck der Demut. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft stand im Vordergrund die Ablehnung jeglicher totalitären Staatsform sowie das Aufzeigen, dass eine von Menschen erarbeitete Ordnung auch fehlbar sein kann.

Daher ist der Gottesbezug nicht bloße Chiffre. Er hat Appellcharakter, unter welchem Namen er auch von den individuellen Bürgerinnen und Bürgern angerufen wird. Der Gottesbezug ruft jede und jeden in die Verantwortung, sein Leben im Sozialgefüge gerecht und verträglich zu gestalten.

Fünfzehn Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes, also vor sechzig Jahren, hat der bekannte Rechtwissenschaftler und spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde dies folgendermaßen ins Wort gebracht: „der freiheitliche…Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann…Als freiheitlicher Staat kann er…nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er den Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert.“

Heute, im 75. Jubiläumsjahr des Grundgesetzes, sind wir genau in diese Gratwanderung hineingenommen. Wir merken, dass die Werte unseres Gemeinwesens unser aller Engagement einfordern. Und hier liegt unsere Aufgabe und unsere Chance als gläubige Christinnen und Christen. Unser Gemeinwesen ist nicht nur offen, es bedarf vielmehr unseres Lebenszeugnisses aus dem Geist des Evangeliums. Das Eintreten für die Grundrechte und die Aufrechterhaltung der Staatsordnung ist nicht nur Angelegenheit von Berufspolitikern, sondern unmittelbarer Auftrag aller Christinnen und Christen sowie aller Menschen guten Willens. Genau darin besteht die Aktivierung „der moralischen Substanz des einzelnen“, von der Böckenförde spricht. Sich gemeinsam in die Verantwortung vor Gott gerufen zu wissen, dürfte es erleichtern, gemeinsam dem Allgemeinwohl zu dienen. Damit sei nicht nur einem vordergründigen Staatskonformismus das Wort geredet. Der Beitrag zum Allgemeinwohl kann durchaus auch die Wahrnehmung der prophetischen Dimension unseres Glaubens bedeuten, aufzuzeigen, wo ein Weg möglicherweise in die Irre gehen kann. Die „Homogenität der Gesellschaft“ lebt nicht zuletzt von der kultivierten Regulierung verschiedener Standpunkte.

Das Bonner Grundgesetz ist die freiheitlichste deutsche Verfassung, gerade auch im Hinblick auf individuelle, positive wie negative Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie der Eröffnung von Freiheitsräumen für Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften.

Feiern wir das Jubiläum der bisher am längsten in Geltung befindlichen deutschen Verfassung und lassen uns weiterhin bestimmen von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“!

Pfr. Dr. R. Scheulen